Mit Religion verbinden viele Menschen den Glauben an einen bestimmten Gott. Dass jemand religiös sein kann, ohne einer Glaubensgemeinschaft anzugehören, ist weitgehend unbekannt. Diese Menschen nennen sich Agnostiker. Ich bin einer davon.
Agnostiker sind Menschen, die nicht wissen und denen es relativ egal ist, welcher Gott der wahre ist. Auch ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, wie er sich nennt und welche Kirche er bevölkert, aber ehrlich gesagt mache ich mir darüber auch keine Gedanken. Auch jetzt, nach dem Tod von Lucas, habe ich nicht begonnen, zu beten. Ich rede aber viel mit Lucas, denn ich spüre, dass er noch bei mir ist.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es eine Menge gibt, was wir nicht verstehen und niemals begreifen werden, solange wir leben. Sicher ist, dass kein Wissenschaftler Leben erschaffen kann. Er kann zwar Leben nehmen und es klonen, aber er braucht immer eine lebende Zelle dazu. Tote Materie wird die Wissenschaft niemals zum Leben erwecken. Unser Körper besteht aus ganz normalen Stoffen, wie man sie in jeder Apotheke bekommen kann, und die es seit Milliarden von Jahren gibt. Was diese Atome und Moleküle aber dazu bringt, sich zu vereinigen, unseren Körper zu bilden, ein Auto zu fahren, sich zu verlieben und das dann auf Facebook zu posten, weiß niemand.
Vielleicht ist es die “Dunkle Energie”, nach der die Wissenschaft verzweifelt forscht, vielleicht ist es aber auch etwas ganz anderes, aber da gibt es etwas. Daran glaube ich. Und dass diese Energie, die uns zusammenhält, niemals verloren geht, daran glaube ich auch.
Lucas hatte eine Menge Energie. Diese Energie ist noch da. Ob sie um mich herum ist oder in einem Himmel, Nirvana oder als neuer Stern auf mich herableuchtet, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass, wenn ich sterbe, ich ein Teil dieser Energie werde, zu der auch Lucas geworden ist. Ich werde wieder bei ihm sein.
Ich will nicht sterben, zumindest noch nicht so bald, und ich gewöhne mir im Moment sogar das Rauchen ab um, wie ich hoffe, etwas länger zu leben. Und dazu versuche ich, ein guter Mensch zu sein. Vielleicht zählt das ja nachher tatsächlich.
Für mich ist es unvorstellbar, dass es nachher eine Liste gibt, in der vermerkt ist, wie oft ich in eine Kirche gegangen bin. Ich kenne einige Menschen, die regelmäßig in die Kirche gehen, die aber auch eine Menge haben, was sie dort beichten müssen. Aber glauben manche Menschen wirklich, dass im Himmel danach geschaut wird, ob sie noch eine Vorhaut an ihrem Penis haben, oder ob sie genug Geld in den Klingelbeutel geworfen haben?
Denken manche Menschen wirklich, dass sie mit ihrem Glauben an den einen oder anderen Gott das Recht haben, andere zu missionieren, zu belehren, zu unterwerfen oder gar zu töten? Die katholische Kirche hat das vor ein paar Jahrhunderten geglaubt, manche Islamisten glauben das heute. Im Namen eines bestimmten Gottes wurde und wird noch immer getötet und gefoltert. Was für ein Arschloch muss dieser Gott sein, wenn er das will? Hat er, wenn seine Anhänger recht haben, nicht auch die Andersgläubigen gemacht? Warum? Als Kanonenfutter für die eigenen Fans?
Wenn es einen Gott gibt, dann hat er uns nicht gemacht, um ihn anzubeten, sondern um nett, freundlich und respektvoll zueinander zu sein. Das ist es, was ich versuche. Auf öffentlichen Toiletten hängt manchmal ein Schild mit der Aufschrift: “Bitte hinterlasse diesen Ort so, wie Du ihn vorfinden möchtest”. Vielleicht ist das die beste Religion, die es gibt.
Seltsamerweise erheben inzwischen viele Menschen ihre privaten Lebensansichten zu einer Religion. Da hetzen dann Nichtraucher gegen Raucher, Vegetarier oder Veganer gegen Fleischesser, Kinderlose gegen Eltern, Arbeitslose gegen Asylbewerber oder Anhänger eines Fußballvereins gegen Fans eines anderen Vereins. Leute, bleibt mal locker! Auch wenn ich denke, meine Art zu leben gefunden zu haben, muss ich sie nicht mit aller Macht in die Welt tragen.
Auch diese Internetseite habe ich nicht gebaut, um andere Menschen zu bekehren. Ich habe sie gemacht, um an Lucas zu erinnern, um vielleicht dem einen oder anderen einen Grund zu geben, wieder miteinander zu reden, Menschen zu trösten, die vielleicht in einer ähnlichen Situation sind und um mal wieder ohne Neid über den eigenen Tellerrand zu schauen.
Wenn ein Leser, der sich zufällig hierher verirrt, das vollkommen anders sieht, dann ist das okay. Ich diskutiere gern, ich plaudere auch gern, und ich höre mir gern andere Meinungen an, solange niemand versucht, mich unbedingt auf seine Seite ziehen zu wollen. Niemand hat die vollkommene Weisheit, und ich erst recht nicht. Ich kann es keinem Menschen vollkommen recht machen, und den bekannten Göttern, die allgemein angebetet werden, erst recht nicht.
Alles, was ich versuchen kann, ist meine Welt jeden Tag ein klein wenig besser zu machen. Das gelingt mir nicht immer, aber selbst wenn es nur ein halb erfrorener Wellensittich ist, dem Rio und ich ein neues Zuhause gegeben haben, oder eine vollkommen unbekannte Person, der ich im Supermarkt ein Lächeln schenke, dann ist es für mich gut. Vielleicht macht das im Großen keinen Unterschied, aber ich helfe lieber im Kleinen, als im Großen zu versagen. Das ist mein Weg. Und ich bin sicher, irgendwann wieder bei Lucas zu sein. Im Moment ist er bei mir. Das spüre ich. Auch ohne Kirche, Moschee oder Tempel.